Nachdem im Frühling die Covid-19-Pandemie fürs Erste bekämpft schien, haben die Nachrichten über die Affenpocken sehr schnell die Runde gemacht und eine erneute pandemische Katastrophe wurde beinahe erwartet. Heute kann festgehalten werden, dass diese Situation ausgeschlossen ist. Dennoch dürfen die Affenpocken nicht unterschätzt werden, auch aufgrund des unzureichenden Wissensstands in der Bevölkerung. Dieser Artikel soll die Mechanismen der Erkrankung aufzeigen, Übertragungsmöglichkeiten erläutern und auch die Frage der Impfung klären.
Bei den Affenpocken handelt es sich um eine virale Erkrankung, welche nicht nur über die Haut und Schleimhaut, sondern auch indirekt über kontaminierte Gegenstände übertagen werden kann. Die Affenpocken werden auch zu den Geschlechtskrankheiten gezählt, nicht weil die Geschlechtsorgane primär betroffen sind, sondern weil sexueller Kontakt mit einer erkrankten Person die Wahrscheinlichkeit der Übertragung massiv erhöht. Insbesondere gleichgeschlechtlicher Geschlechtsverkehr zwischen Männern erhöht das Risiko einer Ansteckung. Die Gründe dahinter sind bis heute noch nicht final geklärt.
Die Inkubationszeit, also die Zeit zwischen Ansteckung und Auftreten von Symptomen, kann bis zu 21 Tage betragen, in der Regel liegt die Inkubationszeit jedoch etwa bei einer Woche. Die Symptome kann man sich als allgemeine schwere Grippe (Erschöpfung, Kopf- und Gelenkschmerzen, Fieber, Schüttelfrost) mit zusätzlichem Hautausschlag vorstellen. Der Hautausschlag besteht vor allem aus kleinen Bläschen und Pusteln, die nach einigen Tagen verkrusten. In der Regel tritt der Hautausschlag nach den Grippesymptomen auf und löst insbesondere in den ersten Tagen des Ausschlags einen heftigen Juckreiz aus.
Von allen Ansteckungen mit Affenpocken betreffen über 90% Männer! Das ist ein möglicher stochastischer Grund, weshalb besonders homosexuelle Männer gefährdet sind. In der Schweiz wurden 500 Fälle erkannt und die Tendenz ist derzeit rückläufig. Die initiale Verbreitung des Virus’ kommt aus Zentralafrika durch die Übertragung von Nagetieren auf den Menschen. Der Name könnte implizieren, dass die Übertragung vom Affen auf den Menschen gelangt ist. Der Affe ist jedoch ein Fehlwirt der Nagetiere. Ein Fehlwirt beschreibt einen Wirt für ein Virus, in dem sich das Virus nicht weiterentwickeln, der es jedoch übertragen kann.
Das Virus der Affenpocken unterscheidet sich vom herkömmlichen Pockenvirus nicht sehr stark. Hierbei gilt es zu beachten, dass das Pockenvirus nicht die Windpocken auslöst. Die Windpocken sind auf das sogenannte Varizella-Zoster-Virus zurückzuführen. Die vorhandenen Impfstoffe gegen das herkömmliche Pockenvirus können auch wirksam gegen Affenpocken eingesetzt werden. In der Schweiz wurde jedoch im Sommer eine Bestellung eines neuen Pockenimpfstoffs getätigt, der spezifischer gegen die Affenpocken gerichtet ist.
Die Impfung dient vor allem der Verhinderung von schweren Krankheitsverläufen und nicht primär dazu, sich gar nicht erst anzustecken. Die Impfung kann prophylaktisch oder nach engem Kontakt mit einer infizierten Person verabreicht werden. Auch wenn die Affenpocken vor allem zu Beginn medial für viel Aufsehen gesorgt und Angst in der Bevölkerung geschürt haben, gibt es keine Impfempfehlung für die breite Bevölkerung.
Dies hat einerseits mit der begrenzten Verfügbarkeit des Impfstoffs zu tun (es konnten 40’000 Dosen bestellt werden) andererseits aber auch mit der ungleichen Verteilung zwischen Mann und Frau. Derzeit wird diskutiert, ob die Impfung Männern vorbehalten sein soll, weil sie in mehr als 90% der Fälle betroffen sind. Dabei gäbe es eine erneute Priorisierung unter den Männern – homosexuelle Männer sind auf der Prioritätenliste aufgrund des erhöhten Erkrankungsrisikos zuoberst.
Frauen müssen sich deswegen jedoch keine Sorgen machen, denn ihr Risiko, an den Affenpocken zu erkranken, ist so gering, dass diese Massnahme tragbar wäre. Dennoch bleibt natürlich eine ethische Debatte, wenn diese Überlegungen durchgesetzt werden würden. Nebst homosexuellen Männern hätte auch Gesundheitspersonal, das aufgrund der Arbeit gegenüber den Affenpocken exponiert wäre, erleichterten Zugang zur Impfung.
Abschliessend kann also festgehalten werden, dass die Affenpocken weiterhin beobachtet werden müssen, jedoch nach aktuellem Stand keine Bedrohung für die breite Bevölkerung darstellen. Eine Impfung ist insbesondere Frauen und heterosexuellen Männern nicht empfohlen und bleibt voraussichtlich homosexuellen Männern, Trans-Personen und exponiertem Gesundheitspersonal vorbehalten.
Student Humanmedizin
Medizinischer Content-Provider (MED4LIFE)
Die meisten von uns sind schon mit Antibiotika in Kontakt gekommen. Halsschmerzen oder auch Blasenentzündungen; ein paar Tabletten und die Krankheit scheint vergessen. Doch was machen wir, wenn diese Wundermittel plötzlich ihre Wirksamkeit verlieren? Und wie kann es überhaupt dazu kommen? Antibiotika wirken, wie der Name schon vermuten lässt, anti-mikrobiell. Sie bekämpfen Bakterien, die in unserem Körper Krankheiten auslösen können und helfen so bei der Genesung. Es gibt unterschiedliche Gruppen von Antibiotika, sie können beispielweise nach ihrem Wirkungsmechanismus eingeteilt werden: demnach gibt es bakteriostatische und bakterizide Antibiotika. Bakteriostatische Antibiotika hemmen das weitere Wachstum der Erreger und bakterizide eliminieren diese direkt.
Von «Resistenz» spricht man, wenn ein Antibiotikum für einen Erreger keine Wirkung zeigt. Unterschieden werden die primäre und sekundäre Resistenz. Der sekundären Resistenz liegt, anders als der primären Resistenz, eine Veränderung des genetischen Materials zugrunde. Bei der primären Resistenz wirkt das Antibiotikum nicht, weil der für die Bekämpfung des Erregers gewählte Mechanismus der falsche ist. Ein typisches Merkmal der erworbenen, also der sekundären Resistenz ist ihre Variabilität. Die unterschiedlichen Resistenzmechanismen können zwischen den Bakterien übertragen werden, was zu multiresistenten Keimen führen kann (Bundesministerium für Gesundheit, 2011).
Antibiotikaresistenzen sind im Allgemeinen aber nichts neues und haben seit Mitte des 20. Jahrhunderts stark zugenommen. Vereinfacht gesagt wächst das Resistenzproblem mit jeder Einnahme. Denn unter Antibiotika haben vor allem die bereits resistenten Bakterien die Möglichkeit, zu wachsen und zu überleben (Bundesamt für Gesundheit, 2019). Es gibt unterschiedliche Anpassungsmöglichkeiten der Bakterien, die zu Resistenzen führen: Sie können das Medikament erkennen und ausstossen, die Zellhülle kann undurchlässig werden und so das Eintreten des Antibiotikums verhindern, die Bakterien können das Medikament chemisch verändern und so inaktivieren oder auch die Strukturen des Antibiotikums gezielt verändern.
Das wahrscheinlich bekannteste und älteste Antibiotikum ist Penicillin. Es wurde 1928 vom britischen Mediziner Alexander Fleming zufällig entdeckt. Er experimentierte mit dem Bakterium Staphylococcus Aureus und entdeckte, dass diese Erreger durch grünen Schimmelpilz getötet werden. Folglich isolierte er eine Substanz, die wir heute als Penicillin kennen (Geo, 2017). Die bakterizide Wirkung von Penicillin ist auf seine chemischen Eigenschaften zurückzuführen. Penicillin hemmt ein bakterielles Enzym (D-Alanin-Transpeptidase), das für den Aufbau der bakteriellen Zellwand benötigt wird. Dadurch wird während der weiteren Teilung der Bakterienzelle die Zellwand instabil und der Erreger kann nicht überleben (Netdoktor, 2021).
2019 starben schätzungsweise 1.2 Millionen Menschen aufgrund einer Infektion mit einem antibiotikaresistenten Keim, wobei rund ein Drittel ursprünglich an einer Lungenentzündung litten (tagesschau.de, 2022). Diese Zahlen sollen in den nächsten Jahren rasant ansteigen. Es besteht die Gefahr, dass man den zurzeit noch gut behandelbaren Infektionen, wie Blasenentzündung, Lungenentzündung oder auch Sepsis bereits in naher Zukunft machtlos gegenübersteht (Liebe, 2019). Experten vermuten, dass bis zum Jahr 2050 mehr Personen an den Folgen von Infektionen mit antibiotikaresistenten Keimen sterben als an Krebs.
Der Vollständigkeit halber sollten auch die multiresistenten Erreger (MRE) erwähnt werden. MRE sind Erreger, die gegen mehrere Antibiotika resistent sind. Solche Keime führen nicht zu schwereren Infektionen als nicht-MRE, jedoch erschweren sie die Behandlung aufgrund der Resistenz. Der aktuell bekannteste MRE ist der methicillinresistente Staphylococcus Aureus, auch MRSA genannt. Gesunde Personen sind oft nur Träger von MRE und erkranken selbst nicht daran, sie können diese aber weitergeben. Daher treten sie oftmals in Spitälern und Pflegeheimen auf, wo sich viele Personen mit geschwächter Abwehr befinden. In Deutschland sind etwa 60% der im Krankenhaus ausgelösten Infektionen MRE-bedingt. Typische Risikofaktoren sind Aufenthalte in solchen Institutionen, die nicht länger als 6 Monate zurückliegen, schlecht heilende Wunden, Antibiotikatherapie innerhalb der letzten 6 Monate, Blasenkatheter und allgemeine Faktoren, die das Immunsystem unterdrücken. Zu den Letzteren gehören beispielsweise immunsuppressive Therapien bei Autoimmunerkrankungen oder bei einer Krebstherapie (Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin, 2019, S. 1-2).
Was aber sind die Ursachen der Antibiotikaresistenz? Ein grosser Beitrag zur Antibiotikaresistenz leistet der undifferenzierte Gebrauch. Zu oft werden Antibiotika ohne gesicherte Diagnose eingesetzt. Beispielsweise ist bei einer viralen Infektion der Einsatz von Antibiotika unnötig, da sie nur bei bakteriellen Infektionen nützen. Ebenso problematisch ist das vorzeitige Beenden der Einnahme. Wenn die Symptome nachlassen, bedeutet dies nämlich nicht, dass die Bakterien eliminiert sind. Wird das Antibiotikum also zu früh abgesetzt, so kann dies Resistenzen fördern. Ein weiterer Fehler ist das zu häufige Anwenden von Breitspektrum-Antibiotika, wenn Schmalspektrum-Antibiotika reichen würden. Breitspektrum bedeutet, dass das Antibiotikum die Möglichkeit hat, verschiedene Strukturen und Mechanismen von Bakterien zu bekämpfen. Breitspektrum-Antibiotika sollten für den Ernstfall aufgespart werden, damit sie wirksam bleiben. Ein weiterer Faktor, der schwerer zu kontrollieren ist, sind Antibiotikaspuren und resistente Erreger im Abwasser. Durch das Abwasser können Keime wieder in unser System gelangen und weitergegeben werden (Bundesministerium für Gesundheit, 2011).
Zur Bekämpfung des Resistenzproblems wären neue Antibiotika und Schnelltestmethoden zur Identifizierung spezifischer Keime und deren Resistenzen essentiell. Eine genaue Identifikation des Erregers kann helfen, das genau passende und wirksame Antibiotikum zu finden und somit den Erreger möglichst effizient zu bekämpfen. Die Pharmaindustrie zeigt kein grosses Forschungsinteresse in diesem Bereich, was möglicherweise mit den hohen Entwicklungskosten zusammenhängt, die schwierig zu erwirtschaften sind, da diese Mittel möglichst wenig eingesetzt werden sollten (Bundesministerium für Gesundheit, 2011). Ein Beitrag, den wir alle leisten können, ist das Vermeiden von neuen Infektionen, beispielsweise durch bessere Hygiene und Impfungen (Liebe, 2019).
Quellen
Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ). (Juni 2019). Multiresistente Erreger. RSA und Co. – Was Sie über diese Erreger wissen sollten. Kurzinformation Für Patienten, S. 1-2. Abgerufen am 14. August 2022 von Patienten-Information: https://www.patienten-information.de/kurzinformationen/multiresistente-erreger
Bundesamt für Gesundheit. (2019). Wie entstehen Antibiotikaresistenzen? Von BAG: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/infektionskrankheiten-bekaempfen/antibiotikaresistenzen/wie-entstehen-antibiotikaresistenzen—.html abgerufen
Bundesministerium für Gesundheit. (2011). DART – Deutsche AntibiotikaResistenzstrategie. Berlin: Bundesministerium für Gesundheit.
Geo. (2017). Wie Alexander Fleming durch eine Schlamperei das Penicillin entdeckte. Von Geo Chronik: https://www.geo.de/magazine/geo-chronik/19648-rtkl-antibiotika-wie-alexander-fleming-durch-eine-schlamperei-das abgerufen
Liebe, S. v. (2019). Penicillin – ein Wundermittel kommt in die Jahre. Abgerufen am 14. August 2022 von BR24: https://www.br.de/nachrichten/wissen/penicillin-ein-wundermittel-kommt-in-die-jahre,R26HHRX
Schrör, S. (2021). Penicillin. Abgerufen am 27. August 2022 von Netdoktor: https://www.netdoktor.ch/medikamente/penicillin/
tagesschau.de. (2022). 1,2 Millionen Tote durch resistente Keime. Abgerufen am 14. August 2022 von Tagesschau.de: https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/antibiotika-resistenz-103.html
Studentin Humanmedizin
Medizinische Content-Providerin (MED4LIFE)
Durch die Coronapandemie ist die medizinische Forschung vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Dabei wurden häufig Forschungsstadien erwähnt, oft wurde der genaue Prozess jedoch nicht oder nur spärlich beschrieben. Dieser Artikel soll Aufschluss darüber geben, was zwischen der Idee einer neuen Therapie oder eines neuen Medikaments und der breiten klinischen Anwendung alles geschieht und worauf geachtet werden muss. Bei der Entwicklung eines neuen Wirkstoffs gibt es strikte Phasen, die genau definiert sind und strengstens eingehalten werden müssen. Daneben gibt es verschiedene Zulassungsprüfungen. Zwei der Zulassungsprüfungen sind besonders wichtig. Die erste findet beim Übergang von Tierversuchen zu klinischen Forschungsphasen, bei denen Patienten einbezogen werden, statt. Die zweite betrifft die finale Zulassung. Wenn die finale Zulassungsprüfung erfolgreich war (diese Prüfung wird in der Schweiz von Swissmedic durchgeführt) darf das Medikament vermarktet werden.
Bei der medizinischen Forschung ist die Evidenz unabdingbar. Medizinische Forschung ist im Prinzip also das Nachweisen von Wirksamkeit. Hierbei gibt es für die Forschenden einen kleinen aber feinen Unterschied: Sie weisen nach, aber beweisen nicht. Man kann es als Wortspielerei auffassen, der Unterschied liegt jedoch darin, dass ein Nachweis im Gegensatz zum Beweis mehr Spielraum lässt für individuelle Abweichungen. Die evidenzbasierte Medizin ist nicht nur essentiell für Zulassungen, auch unser Krankenkassensystem funktioniert über evidenzbasierte Medizin, wenn es darum geht, was finanziert wird und was nicht. Die Wirksamkeit eines Stoffes muss mit Zahlen belegt werden können und es muss belegt werden können, dass die Wirksamkeit höher ist als bei einem bereits etablierten ähnlichen Stoff. Man braucht also immer einen Vergleichswert. Oftmals wird als Kontrolle auch eine Placebogruppe verwendet anstelle eines bereits etablierten Wirkstoffs. Doch wie sieht nun der Ablauf einer solchen Studie aus, die beispielsweise ein neues Medikament auf den Markt bringen will? Ganz grundsätzlich werden bei der Erforschung drei Ziele verfolgt: Sicherheit, Wirksamkeit und Qualität. Das sind auch die Kernfragen bei Zulassungsprüfungen und diese drei Schlagworte sind gesetzlich verankert.
Die zeitliche Abfolge besagt, dass zuerst eine präklinische Testung erfolgt, bei der vor allem Tierversuche und das Untersuchen von Zellkulturen im Labor im Zentrum der Forschung stehen. Die klinischen Studien werden dann in verschiedene Phasen unterteilt. In der Regel werden vier Phasen unterschieden. Sowohl die Dauer als auch die Anzahl der Testpersonen nimmt mit jeder Phase zu! Die erste Phase dient dazu, die Verträglichkeit und Sicherheit des Medikaments zu prüfen. Dabei macht es natürlich Sinn, nur wenige Testpersonen einzubeziehen. Zudem müssen diese Testpersonen gesund sein. Das sind also nicht Personen, die an der Erkrankung leiden, auf die das Medikament abzielt. In der zweiten Phase werden Optimierungen bezüglich des Therapiekonzepts, der Verabreichungsform und der Dosis untersucht. Da ist die Sicherheit schon gewährleistet, weil die klinische Forschung niemals in eine nächste Phase übergehen kann, wenn die davorliegende Phase nicht alle Kriterien erfüllt. Bei Untersuchungen in der zweiten Phase steht also die Wirksamkeit als eines der drei Basisziele im Fokus.
Studien der Phase 3 sind die klassischen Zulassungsstudien, bei denen es um einen Wirkungsnachweis geht, ohne die anderen zwei Basisziele zu vernachlässigen. In dieser Studienphase werden bei gross angelegten Studien bereits bis zu 10‘000 Testpersonen einbezogen und es können mehrere Jahre dafür beansprucht werden. Nach erfolgreich bestandener dritter Phase ist das Medikament zugelassen. Man könnte meinen, dass die Forschung somit vorbei ist – dem ist jedoch nicht so. Die vierte und letzte Phase, die einzige „post-Zulassungsphase“ dient der Anwendungsbeobachtung. Dabei geht es darum, wie sich das neue Medikament im Spital-/Praxisalltag etabliert oder auch wie der Umgang und die Expertise vonseiten des Fachpersonals aussieht. Zudem dient diese Phase zu einem grossen Teil auch dem Marketing dieses neu zugelassenen Medikaments.
In der Regel werden in der klinischen Testung unter den Studienteilnehmer*innen zwei Gruppen gebildet. Die eine Gruppe erhält das neue Medikament und die zweite Gruppe erhält ein bereits existierendes vergleichbares Medikament (aktiv kontrolliert) oder ein Placebo (placebokontrolliert). Ein Placebo ist ein nicht wirksames Präparat, das vom zu untersuchenden Medikament nicht unterschieden werden kann und den Teilnehmenden der einen Gruppe verabreicht wird. Hierbei ist entscheidend, dass die Studienteilnehmenden nicht wissen, in welcher Gruppe sie sich befinden! Auch die durchführenden Personen wissen in der Regel nicht, welche der beiden Optionen sie verabreichen. Das nennt man eine „doppelte Verblindung“. Der Patient/Teilnehmende weiss also nicht, zu welcher Gruppe er gehört und die forschende Person auch nicht. Ein zweites wichtiges und sehr ähnliches Prinzip ist die Randomisierung. Die Randomisierung beschreibt das zufällige Bilden der beiden Studiengruppen. Durch Zufall wird bei genügend grosser Zahl an Teilnehmenden die maximale Vergleichbarkeit zwischen den Gruppen gewährleistet.
Zum Abschluss möchte ich noch eine sehr grosse Frage der medizinischen Forschung aufgreifen nämlich die Kosten. Die Finanzierung geschieht oftmals durch grosse Pharmafirmen. Dabei ist es leider so, dass oftmals die Kosten der limitierende Faktor sind und nicht das technische oder geistige Wissen der Forscher. Ein sehr faszinierendes Beispiel dafür, wie zentral die Kosten in der medizinischen Forschung sind, ist in der Kontrazeption zu finden. Was ist der Grund, dass es bis heute keine Pille für den Mann gibt? Die biologischen Grundlagen dafür zu erforschen wäre keine unlösbare Aufgabe und auch die klinischen Studienphasen wären gut umsetzbar. Das Problem ist vielmehr das Geld. Wieso sollte ein Pharmariese Geld in die Forschung eines Präparats investieren, wenn er bereits immense Summen einnimmt durch die herkömmliche Anti-Baby-Pille für die Frau. Er wäre zwei Risiken ausgesetzt: Erstens hat er keine Garantie dafür, dass die Forschung zum gewünschten Ergebnis kommt. Zweitens würde es bei einem Studienerfolg automatisch zu einem Umsatzverlust bei der Pille für die Frau kommen. Das soll als Beispiel dafür dienen, dass die medizinische Forschung sehr oft kosten- und nicht wirklich patientenzentriert ist.
Student Humanmedizin
Medizinischer Content-Provider (MED4LIFE)
Ende 2021 hat das Schweizer Parlament entschieden, dass der Umgang mit Organspendern grundlegend geändert wird. Bis anhin musste man sich melden und Formulare ausfüllen, wenn man Organspender sein wollte. Künftig wird es gemäss Parlamentsentscheid so sein, dass man, ohne jegliche Schritte zu tätigen, automatisch Organspender wird. Das soll heissen, dass man sich aktiv gegen die Organspende aussprechen muss, um nach dem Tod nicht Organspender zu werden. Fachsprachlich geschieht also ein Übergang von der Zustimmungslösung zur Widerspruchslösung. Die Widerspruchslösung besagt ganz einfach, dass Schweigen einer Zustimmung zur Organspende gleichkommt. Das birgt grosse ethische Fragen, welche in diesem Artikel nebst den Fragen rund um die Organspende erörtert werden.
Kürzlich wurde das Referendum gegen diese Änderung eingereicht. Voraussichtlich am 15. Mai 2022 werden wir als Volk über diese Änderung abstimmen. Wichtig für die Volksabstimmung ist die Unterscheidung zwischen der engen und erweiterten Widerspruchslösung. Die enge Widerspruchslösung, welche vom Parlament verworfen wurde und nicht zur Abstimmung steht, würde besagen, dass Angehörige der Organentnahme nicht widersprechen können, wenn die verstorbene Person ihren Widerspruchswillen zu Lebzeiten nicht festgehalten hat. Das bedeutet folglich auch, dass einzig und allein die betroffene Person Einfluss auf ihre Organspende nehmen kann. Die erweiterte Widerspruchslösung, welcher das Parlament zugestimmt hat, berücksichtigt die Angehörigen beim Entscheid zur Organspende, wenn von der verstorbenen Person diesbezüglich nichts festgehalten wurde.
Das vermutlich naheliegendste ethische Problem tritt auf, wenn diese Änderung von jemandem gar nicht zur Kenntnis genommen wird. Um dieses Problem zu lösen, müsste jede einzelne in der Schweiz lebhafte Person über die Änderung informiert werden. Das ist gar nicht so einfach, wie es klingt, wenn man an Sprachbarrieren, verschiedene Altersgruppen, welche ohne digitale Medien auskommen, oder geistig beeinträchtigte Personen denkt. Dabei ist die erweiterte Widerspruchslösung grundsätzlich ein optimaler Kompromiss. Er federt dieses ethische Problem teilweise ab, da bei dieser erweiterten Widerspruchslösung Angehörige, wie oben ausgeführt, in den Entscheidungsprozess miteinbezogen werden.
Ein zweites ethisches Problem kommt auf, wenn man an die Organspende im Allgemeinen denkt. Im Prinzip muss dieses komplexe Thema final auf eine Ja-Nein-Antwort heruntergebrochen werden. Die erweiterte Widerspruchslösung regt einerseits dazu an, sich bereits früh genug mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Es kann andererseits bei gewissen Personen jedoch auch ein negatives Druckgefühl auslösen, wenn dieses Thema vonseiten der Politik auf einmal so aktuell wird und man selbst nicht gewillt oder in der Lage ist, sich mit der Organspende zu befassen.
Aus meiner Sicht ist hierbei wichtig, dass man sich über die Bedeutung der Organspende klar wird und sich persönlich Gedanken zu der eigenen Haltung macht, ohne zu stark an die Politik zu denken. Denn auch mit der Änderung von der Zustimmungs- zur Widerspruchslösung, wäre es immer noch einfach, sich gegen die Organspende auszusprechen. Nebst dem Vorteil, dass die erweiterte Widerspruchslösung die potentiellen Organspender zeitlich früher zum Nachdenken anregt, wird auch die Anzahl der Personen, die sich mit Organspende befassen automatisch erhöht. Denn mit der erweiterten Widerspruchslösung muss sich jede in der Schweiz lebhafte Person die Frage stellen, ob sie Organe spenden will oder nicht.
Bei der Zustimmungslösung ist es hingegen so, dass nur die Personen, die Organspender sein wollen, aktiv etwas unternehmen und sich mit dem Thema auseinandersetzen müssen. Als Gegner der Organspende reicht es bei der Zustimmungslösung aus, nichts zu tun. Mit der erweiterten Widerspruchslösung müssten sich die Gegner der Organspende immerhin einmal die Frage stellen, wie sicher sie sich in ihrem Entscheid sind, und dann ein entsprechendes Formular ausfüllen. Auch wird mit der erweiterten Widerspruchslösung ein ganz grosser Teil der Bevölkerung, der bis anhin keine Haltung zur Organspende bezogen hat, abgeholt. All diejenigen, die eigentlich nicht gegen die Organspende sind, aber nicht aktiv geworden sind und einen Spenderausweis haben machen lassen, müssen in Zukunft nur sehr wenig tun, um Organspender zu werden. Bis anhin sind solche Leute mit der Zustimmungslösung untergegangen. Mit der erweiterten Widerspruchslösung müsste man einzig das Umfeld informieren, dass man nicht abgeneigt ist, im Todesfall seine Organe zu spenden.
Es ist wichtig hervorzuheben, dass bei dieser Änderung die medizinischen Voraussetzungen, um dann auch wirklich Organspender sein zu können, genau die gleichen bleiben. Aktuell und auch bei Annahme der erweiterten Widerspruchslösung ist es so, dass nur Personen, die im Spital an einer schweren Hirnschädigung oder einem anhaltenden Herz-Kreislauf-Stillstand versterben, Organspender sein können. Personen, die beispielsweise zuhause versterben, können keine Organspender sein, auch wenn sie sich nicht gegen die Organspende ausgesprochen haben. Das hängt damit zusammen, dass der Hirntod ein zentrales Kriterium ist, ob eine Organspende stattfinden darf oder nicht. Eine Person muss absolut hirntot sein, dass Organe entnommen werden dürfen. Zudem ist das Zeitfenster, in dem nach dem Hirntod das Herz-Kreislauf-System für die Transplantation künstlich aufrechterhalten werden kann, sehr kurz.
Zum Abschluss folgen nun noch einige Kennzahlen, welche die Dringlichkeit einer Anpassung der Organspenderegelung verdeutlichen. Eine wichtige Kennzahl ist die Wartezeit für eine Organtransplantation. Beim in der Schweiz mit Abstand am häufigsten transplantierten Organ, der Niere, liegt der Median der Wartezeit bei über 900 Tagen! Die kürzeste erfasste Wartezeit für eine Niere liegt bei knapp 500 Tagen. Selbst das ist eine sehr lange Zeit, die durch breitere Organspenden massiv verkürzt werden kann. Beim Herz und der Leber liegt der Median bei ungefähr 300 Tagen Wartezeit. In den letzten Jahren wurden in der Schweiz konstant um die 500 Organe von verstorbenen Personen transplantiert (BAG, 2022).
Quelle
BAG (2022). Kennzahlen zur Transplantationsmedizin. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/zahlen-und-statistiken/zahlen-fakten-zu-transplantationsmedizin/zahlen-fakten-zur-spende-und-transplantation-von-organen/kennzahlen-transplantation-und-empfang-von-organen.htmlv (zuletzt am 15.03.2022 um 20:30)
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Dieser Artikel liefert einen persönlichen Einblick in das Medizinstudium. Ich studiere im vierten Semester Humanmedizin an der Universität Zürich. Das zweite Studienjahr findet unter dem Leitbild „Der gesunde Mensch“ statt. Der Fokus liegt also während des gesamten Jahres auf dem Aufbau und der Funktionsweise des Menschen. Dabei setzt die Universität Zürich auf separat gegliederte Themenblöcke, welche im Durchschnitt zwei bis drei Semesterwochen beanspruchen. Im dritten Semester wurden die Themenblöcke Immunsystem, Herz-Kreislauf, Atmung, Verdauung, Stoffwechsel und Hormonlehre intensiv behandelt. Im vierten Semester gilt der Fokus dem Gehirn und den Sinnesorganen. Jeder Themenblock umfasst eine Vorlesungsreihe zur Anatomie, eine zur Physiologie und eine zur Biochemie. Alles, was wir in der ärztlichen Grundschulung erlernen, lässt sich also grob einer dieser drei Kategorien zuordnen. Für alle drei Kategorien gibt es auch praktische Kurse, wovon ich den Sezierkurs, welcher das praktische Erlernen der Anatomie ermöglicht, genauer vorstellen möchte.
Beim Sezierkurs erlernen wir die anatomischen Strukturen des gesamten Körpers anhand einer Leiche. Wir schauen sie dabei nicht nur an, sondern müssen die wöchentlich vorgegebenen Regionen selbst mit Skalpell und Pinzetten suchen, freilegen und präsentieren. Die Leiche liegt auf einem von unten belüfteten Tisch und wird von sechs Studierenden gleichzeitig bearbeitet. Es gibt ein Skript, das ganz genau vorgibt, was wir wann und wie bearbeiten müssen. Die sechs Studierenden bilden drei Zweiergruppen und die Zweiergruppen präparieren die vorgegebenen Strukturen jeweils bilateral, also beidseitig. Es gibt pro zwei Tische einen erfahrenen Tischassistenten bzw. eine erfahrene Tischassistentin. Sie stellen eine genaue Supervision sicher und helfen bei Problemen, haben jedoch die Anweisung, nicht selbst zu präparieren. Das Präparieren hilft insbesondere bei der räumlichen Vorstellung und der Lagebeziehung von verschiedenen Strukturen zueinander. Pro Leiche gibt es drei Sechsergruppen, die alternierend einmal selbst präparieren und zwei Mal einen Kurs an der Leiche haben, der veranschaulicht, was die andere Gruppe präpariert hat. In diesen sogenannten Tutoraten wird jedoch nicht präpariert. Das Präparieren findet in drei spezialisierten Säälen statt, die je ca. 20 Leichen umfassen.
Der Sezierkurs sorgt oft für ethische Debatten. Kritiker sagen, dass es Alternativen geben muss, die nicht das Sezieren einer Leiche beinhalten. Ich möchte hier nicht meine subjektiven Gedanken zu stark einbringen, glaube jedoch, dass es momentan keine adäquate Alternative gibt und dass eine solche angewandt würde, wenn es sie gäbe. Insbesondere Online-Tools sollten laut Kritikern Abhilfe schaffen können. Ich kann jedoch aus Erfahrung sagen, dass es einen deutlichen Unterschied macht, ob man etwas an einer Leiche selbst präpariert oder sich ein 3D-Präparat auf dem Handy anschaut. Bei Ersterem ist der Lerneffekt deutlich höher. Zudem werden während des gesamten Prozesses höchste Ethikstandards eingehalten. Die Universität darf beispielsweise nicht aktiv Personen anwerben. Es gibt also nur den Weg, dass Interessierte auf die Universität zugehen und nicht umgekehrt. Das einzig Erlaubte ist ein erklärendes Gespräch durch den Hausarzt. Es kann also vorkommen, dass die Hausärztin bei einem Patienten, der dem Lebensende näher kommt, nebst Themen wie Patientenverfügung und Organspende auch das Thema des Sezierkurses für die ärztliche Ausbildung anspricht. Aber auch die Hausärzte haben die strikte Vorgabe, dass es sich um das Präsentieren einer Möglichkeit und niemals um ein aktives Werben handeln darf.
Nicht nur bei der Auswahl der Personen, sondern auch bei der Erhaltung der Leiche und dem Kurs selbst werden ethische Bedürfnisse und Themen sehr genau besprochen und umgesetzt. Beispielsweise gibt es an der Universität Zürich eine separate Vorlesung zum ethisch korrekten Verhalten im Präparierkurs. Das Einprägsamste aus dieser Vorlesung war für mich persönlich die Aussage, dass sich die Herangehensweise nicht von der bei einem lebenden Patienten unterscheiden soll. Das ist gar nicht so einfach getan, wie gesagt. Es gibt sicherlich verschiedene Möglichkeiten, dies umzusetzen. Meine Seziergruppe und ich haben ausgemacht, dass wir die Leichen als tote Körper bearbeiten und präparieren, aber uns stets vorstellen, dass die Leiche fühlen kann, wie wir sie präparieren und mit ihr umgehen. Das ist einerseits fördernd für einen ethisch korrekten Umgang mit der Leiche und andererseits regt es auch dazu an, die gesuchten Strukturen gut zu erlernen.
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Heute ist die Anästhesie ein unentbehrliches Fachgebiet der Medizin. Anästhesistinnen und Anästhesisten sind aus den Krankenhäusern nicht mehr wegzudenken. Sie ermöglichen nicht nur schmerzfreie chirurgische Eingriffe, sondern überwachen während diesen auch die Vitalfunktionen der Patienten. Des Weiteren finden ihre Fachkenntnisse Anwendung in der Notfall-, Schmerz-, Intensiv- und Palliativmedizin. Die Heilkunst des Betäubens wurde jedoch nicht immer geschätzt. Zeitweise wurde das Operieren unter Narkose sogar verhöhnt. Weshalb sich die Anästhesie schlussendlich doch durchsetze, welche Rolle dabei eine Königin spielte und wie die Anästhesie auch die Chirurgie revolutionierte, wird in diesem Artikel behandelt.
Das Wort Anästhesie kommt aus dem Griechischen und bedeutet Empfindungslosigkeit. Die Betäubung kann entweder nur einen Teil des Körpers betreffen (Teilnarkose) oder das gesamte Bewusstsein und Schmerzempfinden ausschalten (Vollnarkose). Das Wort Narkose, ebenfalls aus dem Griechischen kommend, bedeutet so viel wie erstarrend, lähmend oder einschläfernd. Die Geschichte und Entstehung der Anästhesie ist mit jener der Chirurgie eng verflochten. Schon in der Antike wurde im weitesten Sinne operiert. Damals waren in der Armee Sanitäter und Wundärzte tätig, die unter unvorstellbaren Bedingungen Amputationen und andere Eingriffe durchführten. Obwohl sich das anatomische Wissen mit den Jahren durch die fortschreitende Wissenschaft stark verbesserte, blieb die Technik der Chirurgen, damals Handwerker genannt, relativ ähnlich. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde ein chirurgischer Eingriff wie folgt durchgeführt: Der Patient wurde auf einer Liege gefesselt und von Assistenten festgehalten. Der Chirurg setzte mit einem scharfen Messer zum Schnitt an und der Patient wurde bei vollem Bewusstsein operiert. Dabei wurde die Arbeit des Chirurgen durch die Gegenwehr des Patienten erschwert. Konnte sich der Patient befreien, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er verblutete. Aus diesem Grund bestand die Kunst darin, die Dauer des Eingriffs möglichst kurz zu halten. Die Ärzte sollen während einer Operation schwarze Kittel getragen haben, um die Patienten mit den Blutflecken nicht zu erschrecken. Üblicherweise wurden die Eingriffe ausserdem im sogenannten «Operating Theater» durchgeführt. Dabei handelt es sich um grosse Sääle, die mit Zuschauern – vorwiegend Medizin-Studenten – gefüllt waren. Das Betäuben der Patienten galt in den Augen der meisten Chirurgen als unnötiges zusätzliches Risiko und wurde als «Yankee Humbug» abgewertet. Übersetzt bedeutet dies «amerikanischer Schwachsinn».
Am 16. Oktober 1846 sollte jedoch Schwung in die ganze Entwicklung kommen. Im Massachusetts General Hospital (Boston, USA) war eines dieser «Operating Theaters» bis zum letzten Platz gefüllt. Der Chirurg John Warren wollte dem Patienten Edward Abbott einen Halstumor entfernen. Doch nicht die Operation zog das Publikum an, sondern der Zahnarzt William Morton. Dieser wollte den Patienten nämlich mit Äther während des Eingriffs schlafen lassen. Äther, bekannt als Diethylether, ist eine chemische Flüssigkeit, die ähnlich wie Alkohol wirkt, jedoch viel schneller anschlägt. Bevor der Schlaf eintritt, hemmt es die Schmerzrezeptoren und die Muskelreflexe. Dazu löst es eine euphorische Stimmung aus und hemmt somit die Angst. Die Operation war erfolgreich, der Patient Edward Abbott wachte nach dem Eingriff auf und gab an, während der Prozedur keine Schmerzen empfunden zu haben. Auch der Chirurg soll zufrieden gewesen sein, habe er doch viel präziser und entspannter operieren können, während der Patient schlief. Obwohl der Eingriff ein voller Erfolg war, setzte sich die Methode der Narkose nur zögerlich durch. Viele Mediziner scheuten sich vor den Risiken und setzten auf die altbewährte Methode des schnellen und schmerzhaften Operierens.
Dies änderte sich sieben Jahre später in der Nacht des 7. April 1853. Königin Viktoria von Hannover lag in den Wehen ihres achten Kindes. Da sie bei ihren vorherigen Geburten unter enormen Schmerzen gelitten hatte, liess sie den bis dato unbekannten Doktor Snow rufen. Dieser sollte ihr helfen, die Schmerzen zu lindern. Doktor Snow kam kurz nach Mitternacht und tröpfelte der Königin nach jeder Kontraktion fünfzehn Tropfen Chloroform auf ein Taschentuch und liess die Königin inhalieren. Chloroform (chem. Bezeichnung: Trichlormethan) hat eine schmerzsenkende und betäubende Wirkung. So konnte die Königin ohne Komplikationen und Schmerzen ihren Sohn Albert um 01:13 Uhr auf die Welt bringen. Diese Botschaft verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Unter dem eindrucksvollen Namen «l’anesthésie à la reine» (Anästhesie der Königin) wurde Chloroform so populär, dass sich das Volk nicht mehr ohne Betäubung operieren lassen wollte. Dies hatte zur Folge, dass sich nur wenige Jahrzehnte später die gesamte Technik der Chirurgie revolutionierte. Die schnelle Chirurgie, in der rapide aufgeschnitten wurde, war vorbei. Das Aufschneiden des Gewebes wurde nun vorsichtig und Schicht für Schicht durchgeführt, wobei Blutungen sofort gestillt werden konnten. Die Überlebensrate stieg signifikant und die Chirurgie wurde zu einer Wissenschaft der Präzision.
Aber auch die Anästhesie entwickelte sich über die Jahrzehnte weiter. Bald wurde Chloroform wegen seiner toxischen Wirkung auf Leber und Herz nicht mehr verwendet. Auch Äther wurde durch Distickstoffmonoxid, besser bekannt als Lachgas, ersetzt. Dieses erwies sich jedoch als ausserordentlich umweltschädlich (bis zu dreihundert Mal schädlicher als CO2) und wird heute nur noch in Ausnahmesituationen, wie zum Beispiel bei Allergien auf gängige Narkotika, eingesetzt. Die heutige moderne Narkose wird direkt in die Blutbahn injiziert. Das am häufigsten verwendeten Narkotikum ist Propofol (2,6-Diisopropylphenol). Dieses hat die Vorteile, dass es gut dosierbar ist und nach Beenden der Infusion schnell abgebaut wird. Patienten berichten häufig nach dem Aufwachen von einem prächtigen und himmlischen Schlaf. Deswegen und wegen der weisslichen Farbe wird es auch oft «happy milk» genannt. Die Anästhesie hat einen steinigen Entwicklungsweg hinter sich. Glücklicherweise hat sie es trotzdem geschafft, sich in der modernen Medizin fest zu etablieren.
Quellen
van de Laar, A. (2016). Schnitt! Die ganze Geschichte der Chirurgie erzählt in 28 Operationen. (Deutsche Auflage). Droemer Verlag.
https://www.drugcom.de/drogenlexikon
Student Humanmedizin (MED4LIFE)