Die empfehlende Aussage «gesunder Geist in einem gesunden Körper» (MSICS), unterliegt seit seinem römischen Ursprung einem steten Wandel durch die Jahrhunderte. Allerdings nicht in der Kernaussage, sondern in den Umständen der Möglichkeiten zur aktiven Umsetzung. Noch nie war es vermeintlich einfacher, das Konzept MSICS im digitalen Zeitalter effektiv zu leben. Das Internet bietet ausreichend Instruktion zu individuell angepasstem Training, Ernährung, Lifestyle und Ratgeber-Wissen (den Blogbeitrag, den Sie gerade lesen, ist ein Indiz hierfür). Devices wie Smartwatches führen Buch über Gehleistung, Schlaf und Herzrhythmus – praktisch jede Frage, die wir uns zu unserer Gesundheit stellen können, hat ein digitales Pendant. In der Unternehmenswelt entsteht eine richtige Gründerwelle zum Thema „Digital Health“. Und auch die Wissenschaft hält Schritt mit diesen Entwicklungen: So betreibt die ETH Zürich das Centre for Digital Health Interventions (CDHI), das digitale Biomarker zur Vermeidung chronischer und psychischer Erkrankungen erforscht.
So weit, so gut. Die digitale Welt erleichtert uns also unsere Lernkurve und erhöht unseren Wissensstand. Optimal gerüstet ist der Geist (Mens) in den heutigen Zeiten also gesund? Weit gefehlt! Ein gesunder Geist ist ein solcher, der sich selbst findet, in sich ruht und wächst an selbstbestimmter Herausforderung – und nicht an steter Überforderung. Die digitale Welt ist mittlerweile an Informationsvolumen nicht mehr greifbar, es wächst exponentiell. Die Gefahr einer Überinformation ist naheliegend, insbesondere wenn die Kompetenz für Filterung und Selektion der relevanten Informationen nicht (mehr) vorhanden ist. Wir haben es also mit einem klassischen Paradoxon zu tun: Das verfügbare Wissen rund um Gesundheit war in der gesamten Menschheitsgeschichte noch nie so gross wie heute – und doch macht uns unser Lebensstil so krank wie nie zuvor (daher auch der Begriff der „Zivilisationskrankheiten“).
Die Anforderung, der wir uns als digital anerzogene oder digital native Generationen stellen müssen, ist die klare Trennung zwischen der digitalen Welt und den Sinneseindrücken der realen Welt. Erfahrungen in der einen Welt können nicht kompensieren für Defizite in der anderen Welt. Dies gilt insbesondere für heutzutage stark verbreitete Missstände in der realen Welt – hier können Körper und Geist gesundheitsfördernd behandelt werden: Ausreichend Bewegung, eine ausgewogene Ernährung, Zeit an der frische Luft, kontrollierte Sonneneinstrahlung und erholsamer Schlaf.
Unter dem Aspekt der unbewussten digitalen Beeinflussung bringt mich ein analoger Turnschuh zum Schmunzeln. Die nicht unbekannte Laufschuhmarke nutzt als Markennamen das Akronym ASICS: «Animus sana in corpore sano», Geist (Mens) wird also durch Seele, Herz und Mut (Animus) ersetzt. Wunderbar analog! Und die wenigsten ASICS-Träger sind sich bewusst, dass sie auf einer alten Weissheit stehen und laufen.
Kommen wir zurück zum «sich selbst finden». Das ist leichter gesagt als getan. Man könnte meinen, dass sich finden voraussetzt, bisweilen auch verloren zu sein. Ich würde es etwas milder formulieren und davon ausgehen, dass man in seinen Lebensphasen mehrfach abgelenkt wird und einfach wieder dorthin zurückfinden sollte, wo es damals für die meisten von uns so wunderbar einfach war: In der (hoffentlich) unbeschwerten Kindheit.
Haben Sie kürzlich einmal die Augen eines Kindes gesehen, welches Freude strahlend über eine Wiese geht, wenn die Sonne scheint oder übermütig in einen Schneehaufen springt? Kennen Sie den Glanz wissbegieriger Kinderaugen, die noch träumen können, und bereit sind, jeden Tag Neues zu lernen und die Welt zu erkunden? Niemand muss einem Kind den Spass an Bewegung vermitteln (corpore sano) – es liegt in unserer DNA. Ebenso sind Kinder sehr direkt in der Artikulation ihrer Bedürfnisse, Wünsche und Ansichten. Worüber wir Erwachsene in solchen Situationen häufig schmunzeln oder im Sinne der Höflichkeit die Nase rümpfen, ist ein wesentlicher Teil psychischer Hygiene (mens sana): Authentisch sein dürfen und in Einklang mit sich selbst leben. Leider haben viele von uns auf dem Weg, den Sie über Jahrzehnte gegangen sind, ihre Wurzeln vergessen: Spielen, Spass haben, Neues lernen. Dementsprechend entsteht häufig ein Gefühl der Hilf- und Orientierungslosigkeit.
Ist die Lösung für die Gesundheit der Menschheit also eine völlige Abkehr von der digitalen Welt? Immerhin machen Social Media, häufiges Sitzen, lange Bildschirmzeiten nachweislich krank bzw. unglücklich. Zunächst dürfen Körper und Geist nicht getrennt voneinander betrachtet werden – das relativ junge Forschungsfeld der Psychoneuroimmunologie belegt die vielfältigen Wechselwirkungen (entgegen der separaten Sichtweise der alten Römer). Körper und Geist können also nicht zum Einklang finden, solange der Mensch nicht zu sich und seiner Psyche steht (Mens) und seinen Körper „artgerecht“ unterhält (Corpore).
Was ist diesbezüglich der aktuelle Stand? Widmen wir uns doch einmal dem perfekten Körper. Er ist durchtrainiert, perfekt ernährt, ästhetisch ansprechend. Würde so ein Körper automatisch zum gesunden Geist führen? Nun, digital vielleicht – allzu gross ist die Versuchung, sich in den sozialen Medien als glücklicher, durchtrainierter und gesunder Mensch zu präsentieren. Die Realität liegt allerdings noch immer in der analogen Welt. Im Gespräch mit Augenkontakt, im Empfinden der Aura des Gegenüber, in der Wahrnehmung der umgebenden Umwelt – das ist evolutionär determiniert durch unser Erbe als soziale Lebewesen. Was uns unsere römischen Vorfahren sagen wollten, ist, dass ein gesunder Geist nur in der realen Welt stattfinden kann. Oder haben Sie jemals geschafft, 10 digitale Liegestützen zu machen?
Fazit: Die digitale Welt ist etwas Wunderbares, wenn man sie zu nutzen weiss. Allerdings zwingend innerhalb der Grenzen unserer realen Welt, nicht umgekehrt. Warum nicht einmal ohne Smartphone und Laptop auf einer Parkbank oder in einem gemütlichen Café sitzen und die wunderbare Gegenwart der realen, analogen Welt geniessen? Das wäre mir ein persönliches Anliegen als Mensch, aber auch ein fachliches Anliegen auf Basis meines Wissens rund um einen gesunden Geist in einem gesunden Körper.
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und Chief Medical Officer (MED4LIFE)