Dieser Artikel liefert einen persönlichen Einblick in das Medizinstudium. Ich studiere im vierten Semester Humanmedizin an der Universität Zürich. Das zweite Studienjahr findet unter dem Leitbild „Der gesunde Mensch“ statt. Der Fokus liegt also während des gesamten Jahres auf dem Aufbau und der Funktionsweise des Menschen. Dabei setzt die Universität Zürich auf separat gegliederte Themenblöcke, welche im Durchschnitt zwei bis drei Semesterwochen beanspruchen. Im dritten Semester wurden die Themenblöcke Immunsystem, Herz-Kreislauf, Atmung, Verdauung, Stoffwechsel und Hormonlehre intensiv behandelt. Im vierten Semester gilt der Fokus dem Gehirn und den Sinnesorganen. Jeder Themenblock umfasst eine Vorlesungsreihe zur Anatomie, eine zur Physiologie und eine zur Biochemie. Alles, was wir in der ärztlichen Grundschulung erlernen, lässt sich also grob einer dieser drei Kategorien zuordnen. Für alle drei Kategorien gibt es auch praktische Kurse, wovon ich den Sezierkurs, welcher das praktische Erlernen der Anatomie ermöglicht, genauer vorstellen möchte.
Beim Sezierkurs erlernen wir die anatomischen Strukturen des gesamten Körpers anhand einer Leiche. Wir schauen sie dabei nicht nur an, sondern müssen die wöchentlich vorgegebenen Regionen selbst mit Skalpell und Pinzetten suchen, freilegen und präsentieren. Die Leiche liegt auf einem von unten belüfteten Tisch und wird von sechs Studierenden gleichzeitig bearbeitet. Es gibt ein Skript, das ganz genau vorgibt, was wir wann und wie bearbeiten müssen. Die sechs Studierenden bilden drei Zweiergruppen und die Zweiergruppen präparieren die vorgegebenen Strukturen jeweils bilateral, also beidseitig. Es gibt pro zwei Tische einen erfahrenen Tischassistenten bzw. eine erfahrene Tischassistentin. Sie stellen eine genaue Supervision sicher und helfen bei Problemen, haben jedoch die Anweisung, nicht selbst zu präparieren. Das Präparieren hilft insbesondere bei der räumlichen Vorstellung und der Lagebeziehung von verschiedenen Strukturen zueinander. Pro Leiche gibt es drei Sechsergruppen, die alternierend einmal selbst präparieren und zwei Mal einen Kurs an der Leiche haben, der veranschaulicht, was die andere Gruppe präpariert hat. In diesen sogenannten Tutoraten wird jedoch nicht präpariert. Das Präparieren findet in drei spezialisierten Säälen statt, die je ca. 20 Leichen umfassen.
Der Sezierkurs sorgt oft für ethische Debatten. Kritiker sagen, dass es Alternativen geben muss, die nicht das Sezieren einer Leiche beinhalten. Ich möchte hier nicht meine subjektiven Gedanken zu stark einbringen, glaube jedoch, dass es momentan keine adäquate Alternative gibt und dass eine solche angewandt würde, wenn es sie gäbe. Insbesondere Online-Tools sollten laut Kritikern Abhilfe schaffen können. Ich kann jedoch aus Erfahrung sagen, dass es einen deutlichen Unterschied macht, ob man etwas an einer Leiche selbst präpariert oder sich ein 3D-Präparat auf dem Handy anschaut. Bei Ersterem ist der Lerneffekt deutlich höher. Zudem werden während des gesamten Prozesses höchste Ethikstandards eingehalten. Die Universität darf beispielsweise nicht aktiv Personen anwerben. Es gibt also nur den Weg, dass Interessierte auf die Universität zugehen und nicht umgekehrt. Das einzig Erlaubte ist ein erklärendes Gespräch durch den Hausarzt. Es kann also vorkommen, dass die Hausärztin bei einem Patienten, der dem Lebensende näher kommt, nebst Themen wie Patientenverfügung und Organspende auch das Thema des Sezierkurses für die ärztliche Ausbildung anspricht. Aber auch die Hausärzte haben die strikte Vorgabe, dass es sich um das Präsentieren einer Möglichkeit und niemals um ein aktives Werben handeln darf.
Nicht nur bei der Auswahl der Personen, sondern auch bei der Erhaltung der Leiche und dem Kurs selbst werden ethische Bedürfnisse und Themen sehr genau besprochen und umgesetzt. Beispielsweise gibt es an der Universität Zürich eine separate Vorlesung zum ethisch korrekten Verhalten im Präparierkurs. Das Einprägsamste aus dieser Vorlesung war für mich persönlich die Aussage, dass sich die Herangehensweise nicht von der bei einem lebenden Patienten unterscheiden soll. Das ist gar nicht so einfach getan, wie gesagt. Es gibt sicherlich verschiedene Möglichkeiten, dies umzusetzen. Meine Seziergruppe und ich haben ausgemacht, dass wir die Leichen als tote Körper bearbeiten und präparieren, aber uns stets vorstellen, dass die Leiche fühlen kann, wie wir sie präparieren und mit ihr umgehen. Das ist einerseits fördernd für einen ethisch korrekten Umgang mit der Leiche und andererseits regt es auch dazu an, die gesuchten Strukturen gut zu erlernen.
Student Humanmedizin
Medizinischer Content-Provider (MED4LIFE)