Die Arbeitsmedizin umfasst verschiedene Felder und reicht von der Abklärung arbeitsbedingter Gesundheitsstörungen über die Beratung von Organisationen bezüglich Gesundheitsstandards bis hin zur Schulung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ganz generell befasst sie sich also mit dem Wechselspiel zwischen Arbeit und Gesundheit. Die Arbeitsmedizin ist in der Theorie eine sehr ganzheitliche Medizin und berücksichtigt physische, psychische und soziale Faktoren. In der Praxis standen bis anhin jedoch die physischen Faktoren stark im Vordergrund. In den letzten 30 Jahren wurden die Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz massiv verbessert und als Folge davon sind die Berufsunfälle deutlich gesunken. Der psychische Aspekt der Arbeitsmedizin rückt momentan stärker in den Fokus. Hier ist auch das mit Abstand grösste Potential der Arbeitsmedizin auszumachen.

Da wir in der Schweiz dank der letzten 30 Jahre mittlerweile einen hohen Standard an physischer Arbeitssicherheit geniessen, wäre es sinnvoll, in den nächsten 30 Jahren vermehrt den psychischen Aspekt der Arbeitsmedizin zu betonen (dazu gehört beispielsweise das betriebliche Gesundheitsmanagement, BGM). Dies auch vor dem Hintergrund, dass arbeitsplatzbezogene psychische Erkrankungen (allen voran das Burnout) auf dem Vormarsch sind. Im Artikel zum Burnout wird erläutert, dass sich die burnoutbedingten Kosten in der Schweiz seit 2010 verdoppelt (!) haben. Dieser enorme Kostenanstieg könnte durch den präventiven Ansatz der Arbeitsmedizin massiv verringert werden.

Konkret unternommen wird in der Schweiz dazu aktuell noch wenig. Wie aber könnte eine konkrete Vorbeugemassnahme aussehen? Ein Beispiel ist das regelmässige Ausfüllen eines Fragebogens zum psychischen Befinden am Arbeitsplatz. Dieser Fragebogen sollte von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eines Unternehmens zweimal jährlich ausgefüllt werden. Bei Auffälligkeiten sollte ein Gespräch mit einer psychologischen Fachperson stattfinden.

Die Fragebögen müssen natürlich strengstens vertraulich sein und von externen Fachpersonen analysiert werden, so dass die eigenen Vorgesetzten keinen Zugriff darauf haben. Eine solche Anonymität gegenüber dem Arbeitgeber bringt eine erhöhte Offenheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit sich. Gerade wenn es darum geht, psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz früh zu erkennen, ist dies entscheidend. Die eigenen Vorgesetzen auf psychische Belastungen anzusprechen, ist für die betroffene Person mit viel Mut und Risiko verbunden.  Deswegen wird ein solcher Schritt in der Regel erst getan, wenn das Problem bereits eine relativ hohe Leidensschwelle erreicht hat.  

Die Psyche ist in allen Fällen weniger greifbar als physische Erkrankungen. Dies erschwert nicht nur die Behandlung, sondern auch Studien. Da der psychische Aspekt der Arbeitsmedizin und dessen Leistungen auch finanziert werden müssen, braucht es die Krankenkassenanerkennung. Um dies zu erreichen, bedarf es jedoch der Studien, die den Mehrwert der neuen Intervention (z.B. die erwähnten Fragebögen mit externer Auswertung) eindeutig beweisen. Allerdings ist es sehr schwierig, einen direkten kausalen Link herzustellen zwischen einer solchen vorbeugenden Intervention und der Anzahl Burnouts, die verhindert wurden.

Bei physischen Erkrankungen verhält es sich anders: Wenn beispielsweise an einem neuen Tumormarker geforscht wird, kann numerisch und statistisch ganz klar festgelegt werden, welcher Marker zuverlässiger ist – der Altbewährte oder der Neue. Dazu verwendet man eine Untersuchungsgruppe, welche den neuen Marker erhält und eine Kontrollgruppe, die den bewährten Marker erhält. Danach können die Resultate verglichen und Schlüsse gezogen werden. Bei psychischen Erkrankungen ist es schwer, eine solche Beweislage zu schaffen. Dies ist leider einer der Gründe, weshalb der psychische Aspekt der Arbeitsmedizin bisher nur eine Nebenrolle gespielt hat.

Abschliessend kann also festgehalten werden, dass die arbeitsmedizinische Versorgung in der Schweiz im Bezug auf die physische Gesundheit mittlerweile einen sehr hohen Standard erreicht hat. Die Arbeitssicherheit muss nicht mehr neu erfunden, sondern lediglich in ihren Feinheiten adaptiert – und vor allem umgesetzt – werden. Der psychische Aspekt der Arbeitsmedizin geniesst einerseits noch nicht den selben Stellenwert wie der physische, andererseits wird er aber auch zunehmend relevanter und dringlicher.

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Jil Toman

Student Humanmedizin
Medizinischer Content-Provider (MED4LIFE)