Die postnatale Entwicklung des Gehirns ist aus vielerlei Gründen faszinierend. Das Gehirn ist das Organ, das postnatal, d.h. nach der Geburt, die stärksten Veränderungen durchmacht. Dieser Artikel soll die kindliche Entwicklung des Gehirns beschreiben, Aufschluss über verschiedene Entwicklungsschritte liefern und auch ergründen, was mit dem Gehirn während der Pubertät passiert.

Kinderärzt*Innen wenden etwa einen Viertel ihrer verfügbaren Zeit für Vorsorgeuntersuchungen auf, bei denen die neurologische Entwicklung den Schwerpunkt bildet. Dabei werden zu verschiedenen Zeitpunkten (die Intervalle werden mit zunehmendem Kindsalter grösser) verschiedene Untersuchungen zum aktuellen neurologischen Status des Kindes gemacht. Die erste Vorsorgeuntersuchung erfolgt in der Regel vier Wochen nach der Geburt und umfasst vor allem Bildgebungsverfahren und die Beweglichkeit. Diese Untersuchung hat also nur am Rand mit dem neurologischen Status zu tun. Mit zwei Jahren erfolgt in der Regel eine sehr spielerische Untersuchung, welche den neurologischen Status miteinbezieht. Dort geht es vor allem um die Aufmerksamkeitsfähigkeit und die Wahrnehmung. Klassische Intelligenztests können erst später angewendet werden, daher dient die Untersuchung des Spielverhaltens der Erfassung der geistigen Entwicklung.

Es gibt faszinierende Fakten zur neurologischen Entwicklung von Kindern, die man noch nicht erklären kann. Kinder können beispielsweise erst mit vier Jahren Erinnerungen bilden (traumatische Erlebnisse können schon früher prägend sein). Generell ist das Alter um den Kindergartenbeginn, wenn das Kind also ungefähr vier Jahre alt ist, ein sehr spannendes Alter in Bezug auf die kindliche Entwicklung des Gehirns. Mit vier Jahren beginnen Kinder zum Beispiel, ein Zeitverständnis zu entwickeln. Das Verständnis für Zeitabstände kommt erst später; dieses entwickeln Kinder in der Regel erst mit der Einschulung. Nun stellt sich die Frage, wie sich Kinder, die noch nicht vier Jahre alt sind, zeitlich orientieren. Diese Frage lässt sich durch den sogenannt basalen Zeitbegriff beantworten. Dieser basale Zeitbegriff beschreibt, dass Kleinkinder (<4 Jahre alt) gewisse Zeitabfolgen anhand von Sinneserlebnissen ausmachen. Wenn sie beispielsweise immer vor dem Essen das Geschirr hören und sehen entwickeln sie ein Verständnis dafür, dass es bald Essen gibt. Das ist jedoch eine sehr primitive Auffassung von Zeitabfolgen und die Entwicklung vom basalen Zeitbegriff zur Erfassung effektiver Zeitabstände dauert Jahre.

Zudem bilden sich etwa im Alter von vier Jahren erste Züge von Empathie aus. Ein zwei- oder dreijähriges Kind kann sich bei seinen Handlungen nicht fragen, was das Gegenüber empfindet. Dieses Einfühlungsvermögen kommt erst mit ungefähr vier Jahren. Fachsprachlich beschrieben wird dieser Prozess als ein Übergang von Autonomieentwicklung zur Perspektivenübernahme. Die Perspektivenübernahme meint, dass ein Kind erkennen kann, dass andere Menschen eigene Meinungen, Wünsche oder Interessen haben. Bei der molekularen Entwicklung des Gehirns ist wichtig, dass sich das Gehirn von hinten nach vorne entwickelt und dass sich die Anzahl Neuronen ab der Geburt nicht mehr verändert! Die Anzahl Neuronen bleibt zwar konstant, die Synapsen, also die Verbindungen zwischen Nervenzellen, steigt jedoch massiv an.

Für die Pubertät ist wichtig, dass Synapsendichte und Energieverbrauch direkt proportional zusammenhängen. Was in der Pubertät mit dem Gehirn geschieht, ist das sogenannte „Pruning“. Das Pruning ist ein Prozess, der die Optimierung der synaptischen Verbindungen beschreibt. Im Kleinkindalter muss man sich die Synapsenbildung wucherartig und ineffizient vorstellen. In der Pubertät werden nun überflüssige Synapsen abgebaut und die Effizienz wird gesteigert. Das heisst, dass es ganz viele neue Verknüpfungen im Gehirn gibt; die Anzahl der Verknüpfungen verkleinert sich jedoch insgesamt. Das ist auch wichtig für den Energieverbrauch, der direkt mit der Synapsenzahl zusammenhängt. Man will also gewissermassen einen übertriebenen Energieverbrauch durch unnötige Synapsen vermeiden. Diese Effizienzsteigerung sorgt auch dafür, dass wichtige Synapsen stärker ausgebildet werden können, was nebst der Reduktion der Anzahl einer zweiten Optimierung gleichkommt.

Weiter oben wurde erwähnt, dass sich das Gehirn von hinten nach vorne entwickelt. Dies ist der Grund, weshalb die Sinnesverarbeitung verhältnismässig früh funktioniert, da die Hirnareale für Sehen und Hören weit hinten lokalisiert sind. Die Areale für Motorik jedoch liegen beispielsweise ziemlich in der Mitte. Das ist die Erklärung dafür, dass Kinder erst nach einigen Monaten (ungefähr sechs) eine bewusst gesteuerte und kontrollierbare Motorik besitzen. Zuvor bezeichnet man die Bewegungen als „general movements“, die spontan und nicht bewusst auftreten. Die Hirnrinde ist der Ort des Bewusstwerdens. Das heisst, dass aufgrund der Entwicklungsrichtung die motorische Hirnrinde vor sechs Monaten noch keine Rolle spielt, da sie schlichtweg noch nicht ausgebildet ist.

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Jil Toman

Student Humanmedizin
Medizinischer Content-Provider (MED4LIFE)

Zu diesem Thema einen adäquaten Artikel zu verfassen ist mitunter schwierig, da die Forschung schlicht noch nicht final erklären konnte, wie Lernprozesse ablaufen. Es gibt jedoch bei vielen Lernprozessen schon fundierte Annahmen, welche in diesem Artikel vorgestellt werden. Zu Beginn möchte ich zudem erläutern, weshalb die Erforschung des Gehirns mit all seinen Funktionen so schwierig ist. Für die Forschung müsste man das Gehirn und sein Gewebe eigentlich nicht als ein Organ anschauen, denn das Gehirn hat als zentrales Steuersystem viele verschiedene Anteile, die unterschiedliche Funktionen übernehmen. Das Problem dabei ist jedoch, dass fast jede Hirnfunktion mit Verschaltungskreisen und Rückkoppelungsschlaufen einhergeht und sich somit eine Hirnfunktion gar nicht einem spezifischen Ort zuschreiben lässt. So dient zum Beispiel das Kleinhirn unter anderem der Bewegungsplanung und der motorische Anteil der Hirnrinde der darauffolgenden Bewegungsausführung. Nun sind bereits zwei Gehirnanteile involviert; das sind aber bei Weitem noch nicht alle Hirnareale, die für eine Bewegung aktiviert werden. Für das weitere Verständnis, wieso Forschung am Gehirn so schwierig ist, hilft möglicherweise ein Vergleich mit der Leber. Die Leber zu erforschen war/ist deshalb so viel einfacher, weil das gesamte Gewebe der Leber gleich aufgebaut ist und die gleichen Funktionen übernimmt. Es gibt in der Leber also keine funktionellen und auch keine strukturellen Subunterteilungen, was man vom Gehirn nicht behaupten kann.

Im Folgenden werden beim Lernen involvierten Strukturen und Prozesse vorgestellt. Der Hirnbereich, der zentral ist für Lernprozesse, ist der Hippocampus. Dieser Bereich heisst so, weil seine Form an ein Seepferdchen erinnert und Hippocampus der lateinische Begriff dafür ist. Der Hippocampus ist Teil des Temporallappens (siehe dazu den Artikel „Aufbau des Gehirns“) und kommt beidseitig vor. Wenn das Gehirn eine neue Erfahrung macht, werden jeweils spezifische, über ihre Fortsätze verknüpfte Neuronen aktiviert, um die korrekte (Re-)Aktion auszuführen. Als Beispiel soll hier das erstmalige Greifen eines Stiftes im Säuglingsalter dienen. Wenn am nächsten Tag erneut der Stift gegriffen werden soll, gibt es bei ebendiesen Neuronen eine Art Gedächtnisspur und es werden die gleichen oder zumindest teilweise überlappende Neuronen aktiviert. Der Hippocampus merkt sich also gewissermassen, welche Neuronen für eine spezifische Bewegung gebraucht werden. Diese Gedächtnisspur, die man fachsprachlich Engramm nennt, ist vor allem beim erstmaligen Erlernen von Dingen wichtig und später vor allem für das Langzeitgedächtnis. Der Hippocampus ist also entscheidend für das Kodieren von Gedächtnisinhalt.

Die Langzeitspeicherung findet jedoch nicht im Hippocampus statt, sondern man nimmt an, dass die Informationen in andere Hirnareale transferiert werden. Der Hippocampus hat dadurch auch die Fähigkeit, als Filterstation zu dienen. Er kann mitentscheiden, was an einem anderen Ort langzeitgespeichert und was vergessen wird. Diese Prozesse führen auch zu strukturellen Änderungen im Hippocampus. Personen, die überdurchschnittlich viel Neues lernen haben einen makroskopisch sichtbar grösseren Hippocampus. Der Hippocampus ist also gewissermassen trainierbar wie ein Muskel. Eigentlich haben die Neuronen aber keine Regenerationsfähigkeit (siehe Artikel „Aufbau des Gehirns“), das heisst, dass sie sich nicht teilen können. Wachstum geht aber einher mit Zellteilungen und der Hippocampus ist die einzige (!) Region im Gehirn, die während des gesamten Lebens neue Neuronen erhält. Das deckt sich auch mit der obigen Theorie des Engramms, da das Gehirn somit für neue Lernprozesse „frische“ Neuronen verwenden kann. Zudem sind diese regenerationsfähigen Neuronen des Hippocampus ein in der Forschung stark verfolgter Ansatz, krankhafte Nervenzelluntergänge zu kompensieren. Das ist jedoch sehr schwierig, da die Neuronen innerhalb der verschiedenen Hirnregionen nicht gleich aufgebaut sind und nicht gleich funktionieren.

Um Lernprozesse zu verstehen, muss man auch das Gedächtnis molekular nachvollziehen können. Das menschliche Gedächtnis lässt sich unterteilen in ein Kurzzeit- und ein Langzeitgedächtnis. Je nach Literatur und Forschungsgebiet wird eine noch kürzere Form, die sogenannte Gedächtnis-Spur definiert. Die Gedächtnis-Spur beinhaltet Elemente, die nur im Minutenbereich erinnert bleiben. Das Kurzzeitgedächtis bleibt für einige Stunden bestehen und das Langzeitgedächtnis für Tage oder sogar für immer. Der oben vorgestellte Hippocampus ist vor allem wichtig für das Langzeitgedächtnis. Das Langzeitgedächtnis wird darüber hinaus in ein explizites und ein implizites Langzeitgedächtnis unterteilt, wovon vor allem das Explizite durch den Hippocampus gebildet wird. Das weiss man daher, dass man die Aktivität des Hippocampus bei Langzeiterinnerungen verfolgen konnte.

Was man jedoch bis zum heutigen Tag nicht weiss, ist die Art der Abspeicherung, die durch den Hippocampus initiiert wird. Die gängigste Vorstellung ist eine Langzeitpotenzierung. Das bedeutet, dass es eine langzeitige Kommunikationsänderung zwischen zwei bei der Erinnerungsbildung beteiligten Neuronen gibt. Ein einmaliges Ereignis (das im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden soll) löst im ersten Neuron einen sogenannten Tetanus aus. Das ist eine kurz anhaltende maximale Feuerrate. Dieses neue elektrische Signal wird vom zweiten Neuron wahrgenommen, und diese neue erhöhte Kommunikation zwischen zwei Neuronen bedingt die langzeitige Erinnerung an dieses Ereignis. Somit kann eine nur kurz anhaltende starke Stimulation einer Nervenzelle zur langzeitigen Potenzierung von Nervenzell-Verbindungen führen. Dieser Artikel soll aufzeigen, dass Hirnforschung höchst aktuell ist und noch heute ein riesiges Potential hat. Und falls Sie durch diesem Artikel etwas gelernt haben, dann mit Sicherheit, dass noch niemand final und vor allem molekular beschreiben kann, wie Sie das getan haben.

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Jil Toman

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